Psychologen der Goethe-Universität wollen helfendes Verhalten messbar machen
Wer anderen hilft, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, handelt altruistisch. Inwieweit und warum sind Menschen bereit, etwas zu tun, das anderen mehr nützt als ihnen selbst? Diese Frage beschäftigt zahlreiche wissenschaftliche Fachrichtungen. Psychologen der Goethe-Universität haben nun algorithmisch einen Fragebogen entwickelt, der altruistisches Verhalten messen soll.
FRANKFURT. Jesus, Mutter
Teresa oder Mahatma Gandhi – sie gelten als Inbegriff des altruistisch
handelnden Menschen, der das Wohl der Anderen über sein eigenes Wohl stellt.
Koste es, was es wolle. Systemtheoretisch betrachtet können solche persönlich
nachteiligen Handlungen enorme Auswirkungen haben. Evolutionstheorien etwa
sehen in altruistischem Verhalten langfristig einen Mechanismus der
Gruppenselektion. Auch für das Funktionieren moderner Gesellschaften ist es
unerlässlich, einander zu helfen, gerade angesichts globaler Bedrohungen. Wie
ließe sich dem Klimawandel oder Massenmigration anders begegnen als durch
altruistisches Handeln – ein Handeln, das zukünftige Generationen und
unbekannte Fremde im Blick hat?
In
welchen Situationen und warum Menschen und menschliche Gruppen altruistisch
handeln, wird von verschiedenen wissenschaftlichen Fachrichtungen – von der
Biologie über die Anthropologie bis zur Ökonomie - erforscht. Dazu werden oft
ökonomische Spiele eingesetzt, die als direkte Probe des interessierenden
Verhaltens gelten. Im „Diktatorspiel“ beispielsweise gibt ein Spieler einem
Mitspieler aus freien Stücken einen selbstgewählten Anteil eines geschenkten
Guthabens ab. Ein solcher Akt des Abgebens von Ressourcen (sei es Geld oder
Energie, Information, Blut, Organe…) liegt letztlich jeder Form des
Hilfeverhaltens zugrunde. Die Fachliteratur spricht auch von „altruistischem
Belohnen“.
Demgegenüber
besteht „altruistisches Bestrafen“ in ökonomischen Spielen darin, Kosten auf
sich zu nehmen, um unfairen oder unkooperativen Mitspielern deren erzielte
Gewinne zumindest teilweise wieder abzunehmen. Auch jenes Verhalten ist
altruistisch, insofern die bestrafende Person freiwillig Kosten auf sich nimmt,
um Trittbrettfahrer zu läutern und für die Zukunft zu warnen. Davon profitiert
die gesamte Gruppe. In der Realität moderner Gesellschaften wird altruistisches
Bestrafen oft koordiniert oder institutionalisiert (z.B. bei der
Steuerfahndung).
Studien
mit ökonomischen Spielen sind extrem aufschlussreich in Bezug auf belohnenden
und bestrafenden Altruismus, basieren jedoch auf relativ teuren und aufwändigen
Versuchsanordnungen. Sie erfordern die Bereitstellung von Geld, die
Koordination mehrerer Mitspielenden (die einander in der Regel nicht kennen
dürfen), und sie erlauben nur bedingte experimentelle Kontrolle und/oder müssen
mit unvollständiger Aufklärung arbeiten (Täuschung).
Aus
diesem Grund hat die Psychologin Prof. Dr. Sabine Windmann gemeinsam mit ihren
Koautor*innen an der Goethe-Universität ein Messinstrument konzipiert, das die
beschriebenen Komponenten des Altruismus im Selbstbericht erfasst. Es
handelt sich um eine Skala, die Aussagen enthält wie: „Trotz der Kosten für
mich unterstütze ich auch mir unbekannte Personen“ (für Hilfeverhalten) und
„Ich beobachte genau, ob sich jemand im Team daneben benimmt“ (für
Altruistisches Bestrafen). Die Aussagen wurden aus einem großen Aussagen-Pool
von einem Algorithmus ausgewählt, der spezifisch für Itemauswahl und
Skalenkonstruktion von Juniorprofessor Dr. Martin Schultze, ebenfalls am
Institut für Psychologie der Goethe-Universität, entwickelt wurde. Er basiert
auf der bewährten Ant Colony Otimization, und erlaubt es verschiedene
Qualitätskriterien des Instruments gleichzeitig zu optimieren. „Das ist
extrem gut gelungen“, erläutert Sabine Windmann. „Die Gütekennwerte der Skala
sind beeindruckend und haben klassische Verfahren der Skalenkonstruktion
deutlich übertroffen“.
Interessanterweise
erfasst die Skala noch eine dritte Facette des Altruismus, die in der
verhaltensökonomischen und biologischen Literatur bislang unbekannt ist: die
Moralische Courage, kurz MC. Hier geht es darum, in proaktiver Weise
ethisch-moralische Werte zu vertreten trotz erwartbarer sozialer Bedrohungen,
beispielsweise entgegen einem Macht- oder Autoritätsgefälle. Edward Snowden
oder Greta Thunberg sind hierfür prototypische Beispiele. Diesen Personen geht
es nicht darum, andere Menschen oder Gruppen zu belohnen oder zu bestrafen in
Reaktion auf konkrete soziale Ereignisse oder Beobachtungen. Sondern sie
möchten – grundsätzlich und langfristig – die geltenden Regeln der
Ressourcenverteilung ändern; Windmann spricht von den „Kontingenzen“. Um dies
zu erreichen, nehmen Personen mit Moralischer Courage unkalkulierbare physische
und psychische Gefahren in Kauf einschließlich sozialer Ächtung und
Ostrazismus, also Ausschluss durch die Gruppe. „Hohe MC-Personen sind Change
Agents. Sie drängen nicht auf die Einhaltung, sondern auf die Veränderung
sozialer Normen“, sagt Windmann. Selbsteinschätzungen zu Aussagen wie „Wichtige
Veränderungen für alle versuche ich auch gegen den erklärten Widerstand der
Allgemeinheit durchzusetzen“ oder „Ich hinterfrage offen die Entscheidungen von
Autoritäten oder Vorgesetzten“ bilden diese Neigung ab.
Somit
steht ein Fragebogen zur Verfügung, der drei konzeptuell und empirisch
unterscheidbare Facetten altruistischer Verhaltenstendenzen in wenigen Minuten
erfasst, und der sich – zunächst im deutschen Sprachraum – als Alternative zu
ökonomischen Spielen einsetzen lässt. Dass der Fragebogen aussagekräftig ist,
wurde in ersten Validierungsstudien bestätigt: Die Subskalen weisen die zu
erwartenden Korrelationen auf sowohl mit ökonomischen Spielen als auch mit
etablierten anderen psychologischen Instrumenten.
Als
nächsten Schritt plant die Arbeitsgruppe um Sabine Windmann mit der Psychologie-Doktorandin Lucie Binder analoge
Skalen-Konstruktionen in anderen Ländern, allen voran USA und China. „Das ist
nicht ganz trivial. Wir können nicht einfach die Aussagen des Fragebogens
übersetzen und dann annehmen, dass sie dort dasselbe messen wie hierzulande.“
Weiterhin werden derzeit unterschiedliche Studierenden- und Berufsgruppen
untersucht. Dies überprüft einerseits die mehrdimensionale Konzeption der Skala
und ermöglicht andererseits, deren Vorhersagewert für die Berufseignung zu
ermitteln. „Hohe Bereitschaft zum Hilfeverhalten brauchen wir beispielsweise in
pflegerischen Berufen; hohe Moralische Courage erwarten wir in
Führungspositionen und in künstlerischen Berufen, beispielsweise bei
Satirikern“, erläutert Sabine Windmann. Altruistische Bestrafung werde vor
allem von kohärenten und stark zielgebundenen Gruppen praktiziert wie Militärs
– oder auch in Sekten. „In extremer Ausprägung ist keine der Facetten harmlos
oder alltäglich, aber interessant ist, dass die drei in unterschiedlicher Weise
sozial erwünscht sind und aus diesem Grund differentiell auf die Akteure
rückwirken“. So sei gut belegt, dass sich (moderates) Hilfeverhalten positiv
auswirke auf soziale Beziehungen, subjektives Wohlergehen und sogar die eigene
Gesundheit. Aber wie verhält sich dies mit den beiden konfrontativen
Komponenten? „Diese erzeugen zunächst einmal Konflikt und Stress“, erläutert
die Professorin. „Doch was wäre die Gemeinschaft ohne sie? Die Egoisten könnten
die Hilfsbereiten ausnutzen.“
Aus
diesem Grund tritt Sabine Windmann dafür ein, Altruismus nicht allein mit
Hilfeverhalten gleichzusetzen. Dieses entfalte seine volle gesellschaftliche
Wirkung erst im Verbund mit Altruistischer Bestrafung und Moralischer Courage.
„Nur mit allen dreien gemeinsam sind wir stark.“
Publikation: Sabine Windmann, Lucie Binder, Martin Schultze: Constructing the Facets ofAltruistic Behaviors (FAB) Scale | Social Psychology (hogrefe.com)
Weitere Informationen
Prof.
Dr. Sabine Windmann
Institut für Psychologie
Goethe-Universität
E-Mail: s.windmann@psych.uni-frankfurt.de