Ergebnisse des DFG-Forschungsprojekts „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“(KviAPol) erschienen.
FRANKFURT. Erstmals können im
Rahmen des Forschungsprojekts „Körperverletzung im Amt durch
Polizeibeamt*innen“ (KviAPol) umfassende wissenschaftliche Befunde zu
übermäßigen Gewaltanwendungen durch Polizist*innen in Deutschland und zur
strafrechtlichen Aufarbeitung solcher Geschehen vorgelegt werden. Dafür wurden
im Rahmen einer Betroffenenbefragung über 3.300 Personen befragt und über 60
qualitative Interviews mit Polizist*innen, Richter*innen, Staatsanwälten,
Rechtsanwält*innen sowie Opferberatungsstellen geführt. Das Projekt wurde durch
die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Die
Ergebnisse des Forschungsprojekts werden in dem Buch „Gewalt im Amt. Übermäßige
polizeiliche Gewaltanwendung und ihre Aufarbeitung“ vorgestellt, das am
17.05.2023 im Campus Verlag erscheint. Verfasser*innen der Studie sind Tobias
Singelnstein, Professor für Kriminologie und Strafrecht an der
Goethe-Universität sowie die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen des Projekts
Laila Abdul-Rahman, Hannah Espín Grau und Luise Klaus.
In
welchen Situationen wurde der übermäßige Einsatz polizeilicher Gewalt vor allem
berichtet? Besonders häufig beschrieben Befragte Einsätze bei
Großveranstaltungen wie Demonstrationen und Fußballspiele. Aber auch
Konfliktsituationen oder Personenkontrollen wurden oft genannt. Am häufigsten
berichteten junge Männer, polizeiliche Gewalt erfahren zu haben. „Die
Befragungsdaten sowie die Interviews zeigen außerdem, dass marginalisierte
Personen in besonderer Weise von übermäßiger polizeilicher Gewalt betroffen sind“,
erklärt Prof. Tobias Singelnstein.
19
Prozent der Betroffenen berichteten von schweren physischen Verletzungen. Von
Relevanz waren auch psychische Belastungen wie Wut und Angst vor der Polizei,
das Meiden bestimmter Situationen oder Orte sowie der Verlust des Vertrauens in
Polizei und Staat.
Für eine Anwendung übermäßiger polizeilicher Gewalt können sowohl individuelle wie auch situative und organisationale Faktoren eine Rolle spielen. Mängel in der Kommunikation, Stress, Überforderung, aber auch diskriminierendes Verhalten von Polizeibeamt*innen können übermäßige polizeiliche Gewalt begünstigen. Ebenso gilt dies für Fragen von Betroffenen und Diskussionen sowie Respektlosigkeiten und Weigerungshaltungen in Bezug auf polizeiliche Maßnahmen.
Wie und auf welcher Grundlage werden polizeiliche Gewaltanwendungen von den
Beteiligten bewertet? Beteiligte Personen, Zeug*innen und Justizangehörige
entwickeln anhand verschiedener Maßstäbe jeweils individuelle Perspektiven auf
das Geschehen. Das Recht stellt dabei nur einen Bewertungsmaßstab neben anderen
dar. Für die Polizei spielen neben Fragen der Rechtmäßigkeit einer
Gewaltanwendung auch Aspekte der Legitimität und Praktikabilität eine Rolle, so
das Ergebnis aus den Interviews mit Polizeibeamt*innen.
Wie
häufig wird rechtswidrige polizeiliche Gewalt zur Anzeige gebracht? Bei den
Befragten war eine niedrige Anzeigebereitschaft festzustellen. „Ein Großteil
der Verdachtsfälle rechtswidriger polizeilicher Gewaltanwendungen verbleibt
dadurch im Dunkelfeld. Nur 14 Prozent der von uns befragten Betroffenen gab an,
dass in ihrem Fall ein Strafverfahren stattgefunden habe“, stellt Tobias
Singelnstein fest.
Strafverfahren
zu Verdachtsfällen rechtswidriger polizeilicher Gewalt werden außerdem zu über
90 Prozent von den Staatsanwaltschaften eingestellt, nur in etwa 2 Prozent der
Fälle wird Anklage erhoben. Strukturelle Besonderheiten dieser Verfahren sind
unter anderem, dass es für Polizeibeamt*innen herausfordernd sein kann,
Kolleg*innen zu belasten. Für die zuständigen Staatsanwält*innen erweist sich
angesichts der alltäglichen engen Zusammenarbeit mit der Polizei eine
unvoreingenommene Herangehensweise an solche Verfahren als schwierig. Das kann
auch zu Vorannahmen über die Betroffenen polizeilicher Gewalt führen, deren
Glaubwürdigkeit infolgedessen geringer erscheint, so die Verfasser*innen der
Studie. Diese Aspekte sind von besonderer Bedeutung, weil einschlägige
Verfahren oft von einer schwierigen Beweislage gekennzeichnet sind: „Häufig
steht die Aussage der Betroffenen denen der einsatzbeteiligten
Polizeibeamt*innen gegenüber und es fehlt an weiteren Beweismitteln“, so
Singelnstein.
Als
ein zentrales Ergebnis der Studie hält das Forschungsteam fest: „In den auf
eine polizeiliche Gewaltanwendung folgenden Auseinandersetzungen um die
Bewertung der Gewalt in Gesellschaft und Justiz erweist sich die polizeiliche
Deutungsweise angesichts dieser Umstände als besonders durchsetzungsfähig und
dokumentiert so die besondere Definitionsmacht der Polizei.“
Laila
Abdul-Rahman, Hannah Espín Grau, Luise Klaus, Tobias Singelnstein:
Gewalt
im Amt. Übermäßige polizeiliche Gewaltanwendung und ihre Aufarbeitung.
Frankfurt/New York: Campus Verlag 2023. [Open Access, 495 S., DOI:
10.12907/978-3-593-45438-2]
Eine
Zusammenfassung der Ergebnisse ist ab 16.5.2023 um 7 Uhr unter https://kviapol.uni-frankfurt.de verfügbar.
Kontakt:
Prof. Dr.
Tobias Singelnstein, Forschungsprojekt KviAPol, Professor für Kriminologie und
Strafrecht, Goethe-Universität Frankfurt am Main. Tel. (069) 798 34346; kviapol@uni-frankfurt.de.
Redaktion: Dr. Dirk Frank, Pressereferent / stv. Leiter, Büro für PR
& Kommunikation, Telefon 069 798–13753, frank@pvw.uni-frankfurt.de