Goethe-Universität will die Berücksichtigung von Geschlecht und Vielfalt in Forschungsthemen stärken
Künstliche Intelligenz mit Vorurteilen oder falsch zugeordnete Gräber von Wikingerinnen – Geschlecht und Vielfalt können ganz unterschiedliche und mitunter unerwartete Bedeutung für die Forschung entfalten. Die Goethe-Universität will die Reflexion von Geschlecht und Vielfalt noch stärker als bisher in ihren Forschungsaktivitäten verankern. Dafür wurde ein Zehn-Punkte-Papier erarbeitet.
FRANKFURT. „Die
Goethe-Universität will Vorreiterin auf dem Weg zu einer besseren Wissenschaft
sein, die möglichst allen Menschen gerecht wird“, formuliert
Universitätspräsident Prof. Enrico Schleiff die Zielrichtung des
Zehn-Punkte-Papiers zu Geschlecht und Vielfalt in der Forschung. Am Montag hat
das Präsidium der Universität das Papier und die darin vorgegebenen konkreten
Schritte auf einer Veranstaltung mit externen Fachleuten und der
Goethe-Uni-Forschungscommunity vorgestellt. Die zehn Punkte zielen darauf ab,
die Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Geschlecht und Vielfalt im
Themenspektrum verschiedener Disziplinen zu stärken. So heißt es darin: „Die
Goethe-Universität bekennt sich in ihrem Leitbild zu der gesellschaftlichen
Verantwortung von Forschung und Lehre. Dazu gehört, Wissenschaft auf die
Bedarfe möglichst aller Menschen auszurichten und unterschiedliche Perspektiven
einzubeziehen.“
„Jede Forscherin, jeder Forscher sollte sich fragen: Inwiefern
spielen Geschlechter- und Vielfaltsaspekte in meiner Forschung eine Rolle? Und
zwar nicht nur, weil dies auch für Projektanträge an Bedeutung gewinnt, sondern
weil wir überzeugt sind, dass wir damit zu valideren Forschungsergebnissen
kommen. Indem wir uns dessen stärker bewusstwerden und in Austausch darüber
treten, wird unsere Forschung innovativer und kreativer“, sagte
Universitätspräsident Enrico Schleiff beim heutigen Pressegespräch zur
Vorstellung des Zehn-Punkte-Papiers. In dem Papier beschreibt die
Goethe-Universität, wo sie derzeit steht, und setzt auf konkrete Maßnahmen und
Ziele, um den Einbezug zukünftig noch weiter zu verbessern. So plant die
Universität nicht nur, das Thema im nächsten Hochschulentwicklungsplan zu
verankern, sondern auch, die Reflexion in internen Ausschreibungen einzufordern
und in der Ausbildung und Weiterqualifizierung stärker einzubinden.
Auch für Laien auf Anhieb einleuchtend sind die Beispiele aus der
medizinischen Forschung: Wenn Medikamente nicht gleichermaßen und differenziert
an Frauen wie Männern erprobt sind, wird ihre passgenaue Anwendung schwierig
sein. Dr. Lena Marie Seegers und Prof. David Leistner aus der Kardiologie des Universitätsklinikums
Frankfurt sehen viel Potenzial darin, die medizinische Forschung im Hinblick
auf die Vielfalt von Menschen besser aufzustellen. „Wir werden in Kürze an der
Goethe-Universität ein Frauen-Herzzentrum („Women's Heart Health Center Frankfurt“)
aufbauen zur gendersensitiven medizinischen Forschung. Hier mehr Expertise zu
erlangen, kann die Medizin in Deutschland einen großen Schritt nach vorn
bringen“, sagt Kardiologin Seegers, die zwei Jahre an der Harvard Universität
in Boston zu geschlechtsspezifischen Unterschieden der Herzkranzgefäße
geforscht hat. Frauen ignorierten kardiovaskuläre Symptomatiken oft, weil sie
ein Leben lang an Schwankungen im Wohlbefinden gewöhnt seien. Gerade aber in
Phasen der hormonellen Umstellung wie Schwangerschaft und Menopause sei ein
spezifischer Blick auf die weibliche Gesundheit wichtig. Noch relativ
unerforscht sei auch der Zusammenhang zwischen rheumatischen oder
gynäkologischen Erkrankungen und dem Herzinfarktrisiko. „Frauen haben in
Deutschland ein deutlich höheres Risiko, an einem Herzinfarkt zu versterben als
Männer“, lautet Seegers' nüchterne Bilanz.
In den Erziehungswissenschaften existiert zwar seit langem eine
differenzierte und anspruchsvolle Geschlechterforschung, diese stellt aber
bisher kein Querschnittsthema dar. Hier gebe es noch viel zu tun, erklärte
Prof. Bettina Kleiner, Erziehungswissenschaftlerin und Direktorin des
Cornelia-Goethe-Zentrums. Die pädagogischen Handlungsfelder Schule und
Kindertagesstätten seien zwar nicht die einzigen Gegenstände ihres Faches, aber
die dortige Realität sei prägend für die gesellschaftliche Geschlechterordnung.
Schule bilde einerseits die Lebensverhältnisse in der Gesellschaft ab und habe
andererseits die Aufgabe, Kinder und Jugendliche zu sozialisieren. Damit vermittelte
sie immer auch Werte und Normen, die zu reflektieren seien. „Noch immer werden
im schulischen Unterricht Geschlechterstereotype reproduziert, die unter
anderem dazu führen, dass unterschiedliche und tendenziell für Frauen
karrierebezogen nachteilige fachbezogene und berufliche Präferenzen ausgebildet
werden. Und wenn wir an queere Kinder und Jugendliche denken“, so Kleiner,
„werden deren Lebensrealitäten nach wie vor selten und kaum einmal in
angemessener Weise abgebildet. Deshalb müssen wir in der Ausbildung angehende
Lehrkräfte für Stereotype in ihrem eigenen Denken sensibilisieren“. Und es
spiele durchaus eine wichtige Rolle, wie weit Gleichstellung unter Forschenden
erreicht werden könne: „Natürlich ist es für die Forschung auch von Bedeutung,
wer sie betreibt“, ist sie überzeugt. Für Kleiner ist das Zehn-Punkte-Papier
der Goethe-Universität eine „wichtige Selbstverpflichtung zur Stärkung von
Geschlechterreflexivität, Vielfalt und Gerechtigkeit in der Forschung“.
Der
Zehn-Punkte-Plan zu Download unter: https://www.uni-frankfurt.de/139004805
Redaktion: Dr. Anke Sauter, Referentin für Wissenschaftskommunikation,
Büro für PR & Kommunikation, Telefon 069 798-13066, Fax 069 798-763-12531, sauter@pvw.uni-frankfurt.de